Interview: Die Rolle von strukturellen Faktoren und politischer Raumkultur auf Gemeindeebene für die Landtagswahl 2024 in Sachsen

Dr. Johannes Kiess und Marius Dilling haben die Ergebnisse der Landtagswahlen 2019, der Europawahlen 2024 und der Landtagswahlen 2024 im Zusammenhang mit Strukturmerkmalen und politischer Raumkultur untersucht. Im Interview erklärt Autor Marius Dilling, welche Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen.

Frage: Welche Aspekte der "politischen Raumkultur" hatten den größten Einfluss auf die Wahlergebnisse? Wie definieren Sie den Begriff Raumkultur?

Dilling: Mit dem Begriff der Raumkultur ist die konkrete, „gelebte“ politische Kultur in den Gemeinden gemeint: wie bewerten z.B. die Bürger:innen das politische System und seine Institutionen, wie wird partizipiert oder wo sind rechtsextreme Aussagen bereits „normal“? Es ist eine Art Bündelung des (gegenwärtigen und vergangenen) Wahlverhaltens sowie der politischen Einstellungen der Bürger:innen vor Ort. Wir konnten in unserer Analyse die Wahlbeteiligung sowie vergangenes rechtsextremes Wahlverhalten berücksichtigen. Das sind zwar nur einzelne Indikatoren für eine bestimmte politische Kultur vor Ort – wir konnten allerdings beobachten, dass die AfD von einer langfristig bestehenden rechtsextremen Raumkultur profitiert und dass sie in Sachsen eine gut mobilisierte Kernwählerschaft besitzt, auch oder gerade in Gebieten mit niedrigerer Wahlbeteiligung. Dass sich eine bestimmte Raumkultur in sächsischen Gemeinden entwickeln konnte, ist aber natürlich nicht unabhängig von den sozial-, wirtschafts- und infrastrukturellen Bedingungen vor Ort. In Rahmen von Analysen der Leipziger Autoritarismus Studien konnten wir beispielsweise zeigen, das das subjektive Gefühl, „irgendwie abgehängt zu sein“, und die objektiv ungleichen Lebensverhältnisse natürlich nicht vollständig losgelöst voneinander sind: objektive räumliche Faktoren der Deprivation und deren subjektive Wahrnehmung stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander.

Frage: Vor welchen Herausforderungen stehen kleinere Gemeinden gegenüber urbanen Zentren?

Dilling: Kleinere Gemeinden weisen tendenziell schwächere Infrastruktur auf und sind stärker von Abwanderung – kurz gesagt negativen objektiven Bedingungen – betroffen. Eine gute öffentliche Daseinsvorsorge und „gleichwertige Lebensverhältnisse“ wie sie auch das Grundgesetz fordert, können womöglich bessere Ausgangsbedingungen für demokratische Parteien und ein demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement schaffen. Unsere Analysen – aber auch die von anderen Forscher:innen – zeigen, dass dort wo dieses Versprechen – in den Augen der Menschen, aber offenbar auch objektiv – nicht (ausreichend) eingelöst wird, es antidemokratische Kräfte leichter haben. Unabhängig von der persönlichen Betroffenheit von sozialer Ungleichheit entsteht in strukturschwachen Regionen ein Gefühl des Abgehängtseins. Wichtig ist allerdings zu betonen, dass es keinen Automatismus gibt, dass das auch mit rechtsextremen Wahlentscheidungen einhergeht – es ist vielmehr ein kontextueller Risikofaktor. Für eine individuelle Wahlentscheidung sind darüber hinaus dann politische und psychosoziale Einstellungen wie etwa Autoritarismus oder vorhandene rechtsextreme Einstellungen deutlich relevanter. Das haben wir hier aber nicht untersucht.

Frage: In welchem Zusammenhang stehen Abwanderung von jüngeren Alterskohorten und Frauen aus Gemeinden und spätere Wahlerfolge populistischer Parteien?

Dilling: Die Forschungsliteratur legt nahe, dass mit einem schiefen Geschlechterverhältnis (mehr Männer) auch ein Gefühl des demographischen Abgehängtseins einhergehen kann – z.B. bei der Partnerinnenwahl – was wiederum in der Vergangenheit mit ausgeprägterem Ethnozentrismus, Autoritarismus und NPD-Wahlerfolgen in Verbindungen gebracht wurde. In unserer Analyse der Landtagswahlen 2019 konnten wir einen solchen Effekt bezüglich des allgemeinen Geschlechteranteils auch noch deutlich beobachten. In unseren Modellen, mit denen wir die Zweistimmenanteile der AfD während der Landtagswahlen 2024 erklären, beobachten wir einen solchen Effekt nicht mehr. Das kann verschiedene Gründe haben, die allerdings genauere Analysen erfordern: womöglich ist der AfD-Erfolg in Sachsen in dieser Hinsicht – und anders als noch 2019 – nicht mehr so stark beeinflusst durch einen Männerüberschuss in jüngeren Altersgruppen.

Frage: Sind die Ergebnisse spezifisch für Sachsen, oder ist erwartbar, dass sie für (Ost-)Deutschland verallgemeinert werden können?

Dilling: Unsere Datengrundlage erlaubt es uns, diese Aussagen vor allem über Sachsen zu treffen – eine Verallgemeinerung ist hier nicht grundsätzlich möglich. Dennoch reihen sich unsere Analysen in eine Reihe von Forschungsergebnissen ein, die ähnliche Effekte beobachten. Für Thüringen und Brandenburg beobachten die Kolleg:innen vom IDZ in Jena oder der Emil Julus Gumbel Forschungstelle am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam ganz ähnliche Zusammenhänge. Immer wieder wird betont, dass das Vorhandensein und Zusammenfallen eines längerfristig verankerten rechtsextremen Milieus mit ungünstigen ökonomischen, infrastrukturellen und sozialstrukturellen Bedingungen die AfD stärken.

Frage: Welche Wählerinnen und Wähler fühlen sich zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hingezogen?

Dilling: Wir haben Anfang des Jahres die politischen Milieus des BSW und der AfD miteinander verglichen und kamen zu der Einschätzung, dass das BSW – trotz einiger Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Gefühls des Abgehängtseins und des Antiamerikanismus – eher unter den Anhänger:innen der sozialdemokratischen und linken Parteien findet. In den ostdeutschen Landtagwahlen ist das nun passiert, wie den Wählerwanderungsanalysen zu entnehmen war. Insbesondere die Linke wurde deutlich geschwächt und muss nun in Sachsen – mit Ausnahme einiger Wahlbezirke in Leipzig – als weitestgehend marginalisiert gelten.

Frage: Welche strukturellen und raumkulturellen Faktoren begünstigen die Wahlerfolge der CDU, Linke, SPD und Grüne?

Dilling: Die CDU profitiert grundsätzlich eher von günstigen Strukturbedingungen, wie z.B. eine niedrige Arbeitslosenquote, Zuzug, usw. Sie profitiert entgegen ihrem Namen zwar nicht grundsätzlich vom Anteil an Kirchenmitgliedern in einer Gemeinde, hat in den katholisch-sorbischen Gemeinden nördlich von Bautzen aber einige Hochburgen. Die SPD und Die Linke haben in sächsischen Gemeinden mit vielen Kirchenmitglieder hingegen tendenziell schlechtere Ergebnisse. Während Die Linke vor allem von Leipzig profitiert, kann man bei ihr noch beobachten, dass sie in Gemeinden mit höherer Arbeitslosenquote häufiger gewählt werden. Die SPD ist hingegen in Gemeinden mit besserer Infrastruktur und einem höheren Bevölkerungsanteil erfolgreicher. Die Grünen profitieren vor allem von lang- und kurzfristigen positiven Bevölkerungsentwicklungen – vor allem aber von den Großstädten Leipzig und Dresden. Von einer höheren Wahlbeteiligung profitieren vor allem die CDU und die Grüne – für Linke und SPD können wir das nicht beobachten.

Frage: Welche Faktoren verhindern hohe Wahlergebnisse für die Alternative für Deutschland (AfD)?

Dilling: Zu den Strukturmerkmalen, die es der AfD in Sachsen erschweren, gehören kurz gesagt: große Gemeinden, wenig Kirchenmitglieder, eine hohe Wahlbeteiligung und besserer Infrastrukturausbau, die fehlende Etablierung langfristiger rechtsextremer Milieus sowie das Vorhandensein eines demokratisch orientierten zivilgesellschaftlichen Milieus vor Ort. Daneben beobachten wir einen kleinen Effekt, dass „ältere“ Gemeinden tendenziell seltener AfD wählen. Nachwahlbefragungen deuten ebenfalls daraufhin, dass insbesondere über 70-Jährige in Sachsen seltener die AfD gewählt haben. Aber auch die Wahlbeteiligung und das Vorhandensein rechtsextremer Milieus selbst hängt mit Strukturfaktoren zusammen: Eine gegenwärtig hohe Wahlbeteiligung lässt sich beispielsweise durch eine positive Entwicklung der Einwohnerzahl seit 1990, einen Frauenüberschuss in jüngeren Altersgruppen, eine niedrigere Einkommensungleichheit und einen guten Infrastrukturausbau erklären. Und die extrem rechten Parteien NPD und DSU haben zur Wahl 2009 in jenen Gemeinden mehr Stimmen erhalten, die bis heute u.a. durch eine höhere Zahl an Arbeitslosen, eine hohe Distanz zu Stationen des täglichen Bedarfs und einen Männerüberschuss in jüngeren Altersgruppen geprägt sind.

Frage: Wieso genau sind Gemeinden mit einem hohen Anteil katholischer Sorben so resistent gegenüber rechtspopulistischen Wahlentscheidungen?

Dilling: Anders als katholische Sorb:innen waren evangelische Sorb:innen zum Ende des 19. Jahrhunderts stärker in einem zur Einsprachigkeit führenden Assimilationsprozess eingebunden, was auch durch die Organisation in Landeskirchen bedingt ist. Der Kulturkampf zwischen dem protestantischen Staat und der katholischen Kirche wiederum – aber auch die Verfolgung der Sorb:innen im Nationalsozialismus – hat zu einem besonderen Organisationsgrad und einer Milieubildung insbesondere dort geführt, wo die katholisch-sorbische Minderheit von einer protestantischen Mehrheit umgeben war. Aus der Forschung wissen wir auch, dass christliche Religiosität in mehrheitlich säkularisierten Gebieten mit einer stärkeren intrinsischen Motivation zur Religiosität einhergeht, was christliche Werte wie Nächstenliebe, Wohltätigkeit und Toleranz stärker in den Mittelpunkt rücken lassen könnte. Das zeigt sich so in unserer Analyse nicht, denn ein höherer Katholikenanteil ist für sich positiv korreliert mit dem AfD-Ergebnis. Aber die katholisch-sorbischen Gebiete sind offenbar durch eine hohe soziale Norm geprägt, nicht antidemokratisch zu wählen. Und die enge zivilgesellschaftliche Vernetzung sorgt dann für die Verbindlichkeit dieser Norm.  Etwas ganz Ähnliches ist übrigens im katholisch geprägten Eichsfeld in Thüringen während den Landtagswahlen beobachtbar gewesen.

Frage: Welche spezifischen sozialen und ökonomischen Faktoren haben die Wahlbeteiligung in verschiedenen Regionen Sachsens beeinflusst?

Dilling: Wir konnten beobachten, dass sächsische Gemeinden mit einer „positiven“ Bevölkerungsdynamik –z.B. eine positive Entwicklung der Bevölkerung seit 1990 und allgemein größere Gemeinden – mit einer höheren Wahlbeteiligung einhergingen. Eher demobilisierte Räume, also Gemeinden, in denen die Wahlbeteiligung geringer ausfällt, weisen tendenziell auch eine schlechtere Infrastruktur auf. Das verweist auf eine sozial und politisch deprivierte Raumkultur – man fühlt sich etwa von der „politischen Elite“ entfremdet – und das ist etwas, was nicht unabhängig von tatsächlichen strukturellen Lebensbedingungen vor Ort ist.

Frage: Wie könnten die Ergebnisse des Berichts gezielte politische Empfehlungen für künftige Wahlen in Sachsen beeinflussen?

Dilling: Sparpolitik und eine unzureichende öffentliche Daseinsfürsorge – das zeigen auch internationale Studien – stärken rechte Parteien. Dementgegen stehen zivilgesellschaftliches Engagement und eine demokratische Kultur vor Ort. Hier benötigt es langfristige und strukturelle Unterstützung von demokratisch Engagierten in der Zivilgesellschaft und in der Kommunalpolitik vor Ort. Auch sollten deren Interessen stärker in Transformationsprozesse und strukturpolitische Entscheidungen eingebunden werden.

Die Fragen stellte Louis Geiger.

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