Verschwörungsmentalität als Reaktion auf ein gesellschaftliches Unbehagen
Politische Entfremdung, Vertrauensverlust in die Institutionen des Staates und die Angst vor einem wirtschaftlichen Abstieg leisten Verschwörungsideologien auch ausserhalb der Pandemie Vorschub, meint EFBI-Forscherin und Sozialpsychologin Clara Schließler. Sie erforscht auch, was Menschen dazu bringt, wieder Abstand von einer Verschwörungsmentalität zu nehmen.
EFBI: Was genau zeichnet eine Verschwörungsideologie oder -mentalität aus?
Schließler: Verschwörungsmentalität ist die Bereitschaft hinter jeglichen gesellschaftlichen oder politischen Phänomenen generell das geheime Wirken von kleinen, geheimen, mächtigen und böswilligen Gruppen zu vermuten, die die Geschicke der Welt steuern. Das heißt nicht, dass es nicht reale Verschwörungen oder Absprachen gibt. Aber es ist dieser reflexhafte und unwiderlegbare Glaube daran, der nicht wirklich hinterfragen will, sondern meint tatsächlich schon verstanden zu haben. Durch die Projektion der tatsächlichen strukturellen, auch ökonomisch vermittelten Missstände als Resultat der Handlung von oder kleinen mächtigen Gruppen, erscheint die Welt weniger komplex; der Eindruck, die wahren Figuren hinter dem Weltgeschehen zu erkennen, gibt ein Gefühl von Kontrolle und bietet eine Identifikationsangebot als eine der wenigen Personen, die alles durchschaut.
Wir verstehen Verschwörungsmentalität zugleich auch als Teil des Autoritären Syndroms, also des Bündels an Dispositionen, das auch vielen andere antidemokratische Einstellungen wie Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus oder Antifeminismus zugrunde liegt. Deswegen funktioniert Verschwörungsmentalität auch regelmäßig als Scharnier zwischen diesen antimodernen Ressentiments. Sie alle beinhalten die Tendenz zu einer Rückwärtsgewandtheit, einem Wunsch nach einem Zurück - zu einer vormodernen, scheinbar besseren, versöhnten Vergangenheit, die es so natürlich nie gegeben hat.
EFBI: Welche Funktion erfüllt der Glauben an Verschwörungsideologien? Gerade in der Pandemie?
Schließler: Verschwörungsmentalität zeichnet sich durch eine auffällig irrationale Leugnung der Realität aus, gleichzeitig ist ihr Erscheinen jetzt gerade, aber auch schon zu früheren Zeiten, an die gesellschaftliche Realität geknüpft und als Symptom dieser zu begreifen. Interessant ist zu schauen, was sich in der aktuellen Konjunktur von Verschwörungsideologie zeigt. Klar, Gefühle von Angst, fehlender Handlungsfähigkeit und Ohnmacht sind in einer Pandemie besonders präsent. Aber wir gehen davon aus, dass sich das nicht nur auf die Pandemie beschränken lässt, sondern Verschwörungsmentalität als Symptom da aufscheint, wo sich die kapitalistische Moderne krisenhaft durchsetzt. Auf Basis unserer Leipziger Autoritarismus Studien können wir zeigen, dass sie eng mit politischer Entfremdung, Vertrauensverlust in die Institutionen des Staates und subjektiven ökonomischen und sozialen Deprivationserfahrungen zusammenhängt. Auch konnten wir im Langzeitvergleich zeigen, dass insbesondere die subjektive Befürchtung des Verlusts ökonomischer Macht, der eigenen und der Deutschlands – das heißt explizit nicht tatsächlich ökonomische Prekarität - die Ressentiments und eben auch den Glauben an Verschwörungserzählungen in die Höhe trieb - beispielsweise im Nachgang der Wirtschaftskrise.
EFBI: Sie haben am EFBI ein Forschungsprojekt gestartet, in dem auch Menschen befragt werden, die sich von Verschwörungsideologien abgewendet haben. Welches Bild ergibt sich durch diese Befragungen von dem Prozess, der Menschen dazu bringt, diesen Glauben zurückzulassen?
Schließler: Ein Ansatzpunkt ist, Verschwörungsmentalität als Art fehlgeleitete Reaktion auf ein - durchaus nachvollziehbares - gesellschaftliches Unbehagen zu begreifen, das unsere Form der Vergesellschaftung strukturell hervorbringt. Erste Ergebnisse aus der aktuellen Studie des EFBI mit Aussteigerinnen und Aussteigern aus einer Verschwörungsmentalität legen beispielsweise nahe, dass Verschwörungsideologie für jungen Menschen beim Hereinwachsen in eine solch widersprüchliche Gesellschaft wie wir sie haben, als falsche Gesellschaftskritik und somit als Bearbeitungsform der ihm oder ihr entgegengebrachten Zumutungen dienen kann. Wir konnten Hinweise darauf finden, dass, wenn diese jungen Menschen in Kontakt mit progressiven, realitätsbezogenen Formen der Gesellschaftskritik kamen, ihr Verschwörungsglaube an Bedeutung verlor und schließlich aufgegeben werden konnte. Leider passiert das zu selten. Extrem rechte Protagonisten und Netzwerke sind sehr routiniert darin, dieses Unbehagen weiter zu mobilisieren, für ihre Ideologie zu instrumentalisieren – beispielsweise durch Übernahme der Narrative von „denen da oben“ und „wir hier unten“. Damit können sie vordergründig die sich da in der Verschwörungsmentalität ausdrückenden Bedürfnisse nach Angst- und Ohnmachtsabwehr aber auch Artikulation von Frust oder Widerständigkeit zu erfüllen. Tatsächlich sabotieren sich die Leute jedoch selbst in dem Versuch, handlungsfähig zu werden. Denn die verschwörungsideologische Bewegung, wenn man das so nennen will, rund um die Corona-Proteste, fällt ja bisher eher durch selbstbezogenen Individualismus auf und weniger durch den Aufbau wirklich solidarischer Strukturen.
EFBI: Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Pia Siemer.
Foto: Swen Reinhold