"Wir wollten den Finger in die Wunde legen"

Interview von "Bei uns doch nicht!" mit Julia Oelkers

Julia Oelkers, Dokumentarfilmerin und Journalistin, stellte auf dem Fachtag "Dokumentation und Monitoring 2023" in ihrer Keynote Ausschnitte aus ihren Arbeiten vor. Seit den 1990er Jahren arbeitet sie als Dokumentarfilmerin in Berlin. Der erste Film, an dem sie mitarbeitete, war ein Interviewfilm mit einem mosambikanischen Vertragsarbeiter aus Hoyerswerda.

Oelkers ist es von Anfang an wichtig gewesen, die Sicht der Betroffenen einzufangen. In den letzten Jahren arbeitet sie verstärkt mit Webdokumentationen. Ihre Arbeiten sind keineswegs linear angelegt, sie haben ein starkes erzählerisches Moment und berichten von Solidarität, Gegenwehr, Lebensfreude und Emanzipation. Auf dem Fachtag zeigte sie Ausschnitte aus drei Webdokumentationen: Zuerst aus ihrem Langzeitprojekt „Hoyerswerda1991“, welches sich mit den rassistischen gewalttätigen Ausschreitungen gegen mosambikanische Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter 1991 in Hoyerswerda beschäftigt. Die Webdokumentation „Eigensinn im Bruderland“ stellte sie als zweites Projekt vor. Diese Webdokumentation erzählt von Migrantinnen und Migranten in der DDR und wie sie ihre eigenen Vorstellungen vom Leben realisierten. In „Gegen uns“ sprechen Betroffene über rechte Gewalt, aber auch über die Gegenwehr.

Im Interview mit Anna Vosgerau und Eva Weber vom Podcast „Bei uns doch nicht!“ spricht Julia Oelkers über gesellschaftliche Kontinuitäten und Herausforderungen, welche ihre Arbeit begleiten, über das Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Monitoring bei dokumentarischer Arbeit und was sie sich für die Zukunft der Zivilgesellschaft wünscht.

Bei uns doch nicht!: Welche Resonanz erleben Sie auf Ihre aktuelle Arbeit, aber auch auf vergangene Projekte?

Oelkers: Die Projekte sind ja unterschiedlich. Mit dem Projekt zu Hoyerswerda und dem Pogrom wollten wir den Finger in die Wunde legen, Menschen konfrontieren, sodass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Zu den Jahrestagen der Ausschreitungen waren zwar oft viele Journalistinnen und Journalisten vor Ort, viele stellten aber schlecht recherchierte Fragen und schreiben jedes Jahr den gleichen Bericht. Das führt natürlich auch dazu, dass sich Menschen vor Ort nicht mehr zum Thema äußern möchten, was ich nachvollziehen kann. Als Konsequenz aber gar nicht mehr darüber zu sprechen, ist auch keine Lösung, denn nur wenn man den Mund aufmacht, ist man auch in der Lage, die Berichterstattung zu beeinflussen. Eine Webdokumentation wie „Eigensinn im Bruderland“, in der es um Migration in die DDR geht, ruft andere Reaktionen hervor. Da gibt es einige, die den Staat DDR immer noch verteidigen und überhaupt keine Kritik hören wollen. Im Großen und Ganzen haben gerade Menschen im Bildungsbereich und im universitären Bereich einen eher offenen Umgang damit dem Thema. Aber auch gerade nach dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung habe ich das Gefühl, dass es ein Thema ist, was wieder auf mehr Interesse stößt.

Es haben sich seitdem viele migrantische Gruppen auch aus der zweiten Generation gebildet, Kinder von Migrantinnen und Migranten, die in der DDR lebten. Sie machen jetzt Projekte zu dem Thema und fragen viel tiefer nach. Es war lange Zeit wirklich sehr schwierig, Migrantinnen und Migranten zu finden, die in der DDR gelebt haben und sich zu ihren Erfahrungen öffentlich äußern wollten, das hat sich jetzt geändert.

Bei uns doch nicht!: Die Perspektiven, denen Sie eine Sichtbarkeit geben wollen, waren lange kaum Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses. Heutzutage sind die Themen in Teilen der Gesellschaft präsenter, in anderen weniger. Wie kamen diese Diskursverschiebungen und die gesellschaftliche Sichtbarkeit zustande?

Oelkers: Ja, das hat sich schon verändert. Es ist ein größeres Selbstbewusstsein vorhanden über die Themen Rassismus und rechte Gewalt zu sprechen, gerade auch auf öffentlichen Veranstaltungen oder vor der Kamera. Lange Zeit war es fast nicht möglich oder wirklich schwer, Menschen zu finden, die offen sprechen wollen. Und ich glaube, das liegt auch daran, dass es jetzt eine größere gesellschaftliche Akzeptanz für Betroffenenperspektiven gibt. Zudem wird auch anerkannt, dass es rassistische und rechte Gewalt gibt und gab, zum Beispiel in den Baseballschlägerjahren in den 90er Jahren, unter der viele Menschen gelitten haben. Oder, dass die sogenannte friedliche Revolution für manche Menschen eben nicht friedlich war. Ich glaube, es ist mittlerweile in der Gesellschaft angekommen, sodass sichere und geschützte Räume entstanden sind, um über diese Themen sprechen zu können.

Bei uns doch nicht!: Sie haben in der Keynote berichtet, dass das Interesse der Zivilgesellschaft an der Auseinandersetzung mit der Perspektive der Betroffenen von rechter und rassistischer Gewalt  und damit an ihren Projekten oft nicht besonders groß ist. Warum ist das so?

Oelkers: Wahrscheinlich gibt es auch da nicht nur eine Antwort. Manchen ist es vielleicht einfach egal. Vielleicht haben aber auch manche ein schlechtes Gewissen. Also gerade in Hoyerswerda, weil sie nicht eingegriffen haben und es immer als Vorwurf verstehen, wenn man nachfragt, warum sie die Taten nicht verhindert haben oder eingeschritten sind. Gerade in einer Gesellschaft, die wie in der DDR immer so stolz darauf war, die antifaschistische Erziehung in den Vordergrund zu stellen. Auch die Frage „Warum ist es möglich, dass Menschen angegriffen werden, ermordet werden, Opfer rechter Gewalt werden?“ ist wahrscheinlich eine Frage, die sehr unbequem ist und die viele sich nicht stellen möchten oder die man sich selbst auch vorwirft.

Bei uns doch nicht!: Hat sich der Umgang der Zivilgesellschaft in Hoyerswerda mit rechten und rassistischen Gewalttaten aus Ihrer Sicht verändert?

Oelkers: In Hoyerswerda hat es sich in dem Moment verändert, wo Menschen Gesicht zeigten und sich öffentlich gegen Rassismus einsetzten, indem sie demonstrierten, sich laut äußerten oder sich in der Unterstützung von Geflüchteten engagierten. Die Menschen, die in der Stadt eine Stimme zeigen, sind sichtbarer geworden und werden wahrgenommen. Wodurch sich auch andere Menschen an ihnen orientieren können.

Bei uns doch nicht!: Gibt es gesellschaftliche Kontinuitäten, die Sie bei den Dokumentationen innerhalb der Jahrzehnte begleitet haben?

Oelkers: Ja, rechte Gewalt war einfach immer da. Es gab immer rechte, rassistische, antisemitische Angriffe auf Menschen. Oft wurden diese nicht polizeilich verfolgt und es gab auch oft keine juristische Verfolgung. Das führte dazu, dass sich Menschen aus der extremen Rechten frei fühlen konnten und relativ sicher sein konnten, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden. Es ist immer wieder den Angegriffenen nicht geglaubt worden oder die Angriffe wurde runtergespielt und sie haben keine Hilfe bekommen. Oftmals wurden Gewalttaten auch einfach verschwiegen. Und gleichzeitig gibt es auch einen Kampf um das Gedenken. Gruppen, Initiativen und solidarische Menschen fordern Gedenksteine, Gedenkstellen und Gedenkorte, die oftmals jedoch nicht eingerichtet werden. Der Kampf um das Gedenken ist somit oft gleichzeitig ein Kampf um eine Anerkennung. Dieser bleibt jedoch oftmals ohne Erfolg.

Bei uns doch nicht!: In den Webdokumentationen, die wir auf dem Fachtag gesehen haben, wurde das Spannungsfeld von Dokumentation deutlich. Auf der einen Seite kann Dokumentation als Monitoringinstrument dienen, auf der anderen Seite ist Dokumentation ein Instrument der Erinnerung. Wie begegnet Ihnen dieses Spannungsfeld in der filmischen Arbeit und welche Bedeutung hat das visuelle Format daher für Sie?

Oelkers: Mit dem Format des Films kann man natürlich erst mal Leute beobachten, begleiten und kann Prozess zeigen. Ich benutze relativ oft das Format des Interviews. Interviews bieten die Möglichkeit, verschiedene Aspekte und Perspektiven zusammenzubringen und zusammenzuschneiden. Meistens sind die Interviewclips nur drei Minuten lang, also nicht so superlang, sodass man den Menschen, glaube ich, gut folgen kann und trotzdem verschiedene Stimmen hört und ein Gesicht dazu sieht. Bei meinem neuen Projekt „De-Zentralbild“ geht es ja tatsächlich um Sichtbarkeit in der Geschichte der DDR. Aus der DDR, einem vergangenem Land, einem Land mit einer komplett in der Vergangenheit liegenden Geschichte, gibt es Bilder, aus denen Bildarchive entstanden sind. In diesem Bildmaterial fehlen aber einfach Teile der Gesellschaft, nämlich in dem Fall Bilder von Migrantinnen und Migranten. Die gehören aber auch dazu. Es ist eine Frage von Teilhabe und sollte auch ein Teil des Selbstverständnisses sein, wenn wir auf die Geschichte gucken. Also, dass Einwanderung nicht nur in Westdeutschland stattfand, sondern natürlich auch in Ostdeutschland und zwar die ganze Zeit. Denn die Menschen waren lange hier, sind hier, haben dieses Land mitgeprägt, das Land mit aufgebaut, sind ein Teil davon und natürlich auch ihre Familienfotos und ihre Erinnerungen und ihre Selbstinszenierung.

Bei uns doch nicht!: Welche Handlungsmöglichkeiten sehen Sie, in der Politik und in der Zivilgesellschaft um rassistischer Gewalt und Strukturen etwas entgegen zu setzten oder zumindest einen anderen Umgang damit zu finden?

Oelkers: Grundsätzlich müssen die Menschen aufeinander zugehen. Das klingt jetzt so banal, aber man muss versuchen mitzubekommen, was zum Beispiel bei den Nachbarn passiert und auch mal die Perspektive wechseln. Das ist, glaube ich, wesentlich. Die Leute brauchen Kontakt. Es ist für eine Zivilgesellschaft einfach wichtig, dass auch die Menschen, die von rechter Gewalt bedroht sind, wissen, wo sie Unterstützung finden. Auf politischer Ebene kann ich nur sagen, es muss eine Strafverfolgung stattfinden. Es muss klar sein: Rassistische Gewalt wird hier nicht geduldet und auch gesellschaftlich geächtet. Es ist eben nicht der brave Junge von nebenan, der hier nur mal kurz über die Stränge geschlagen hat, sondern es wird gesellschaftlich nicht akzeptiert und geahndet und hat Konsequenzen. Und die Menschen werden geschützt und ernst genommen. Es wird ihnen geglaubt.

Bei uns doch nicht!: Vielen Dank für das Gespräch!

Die neueste Arbeit von Julia Oelkers beschäftigt sich mit migrantischen Perspektiven auf die Zeit in der DDR. Unter dem Namen "De-Zentralbild" veröffentlicht Oelkers private Fotoarchive von 30 Personen, welche das visuelle Gedächtnis der DDR erweitern soll.

Der Fachtag wurde vom EFBI, chronik.LE, dem Kulturbüro Sachsen und der RAA Sachsen organisiert und als Projekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (Teilinstitut Leipzig) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

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