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ELSE-FRENKEL-BRUNSWIK-INSTITUT für Demokratieforschung in Sachsen

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Projekt in Sachsen

Politischer Protest in der Oberlausitz

Das EFBI untersucht Protestgeschehen in der Lausitz. Foto: Marcel Noack

Das Forschungsprojekt „Politischer Protest in der Oberlausitz“ beschäftigt sich mit verschiedenen Formen zivilgesellschaftlichen und politischen Protests in sächsischen Regionen, der Schwerpunkt liegt auf der sächsischen Oberlausitz. Die Hintergrundfolie bilden dabei spezifische Strukturmerkmale: Nach dem sich viele Landesteile von den Umbrüchen nach 1989 zu erholen begannen, ist Sachsen nun vor die Herausforderungen eines erheblichen Strukturwandels durch den geplanten Kohleausstieg 2038 gestellt. Das Projekt verfolgt das Ziel, die Zusammenhänge aktueller und vergangener politischer Krisen mit politischem Protest in ihrer lokalen Spezifik, aber auch in ihren verallgemeinerbaren Dynamiken zu verstehen. Die Oberlausitz stellt dabei eine Referenzregion der Forschung dar.

Durch das 2019 beschlossene Ende des Bergbaus ist die Oberlausitz als eine der drei letzten Kohleregionen immer wieder ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Strukturbrüche und Transformationserfahrungen prägen diese kulturell sehr vielfältige Region allerdings schon seit 1989. Früher wichtigster Energielieferant für die DDR, erlebte die Oberlausitz mit der Wende abrupt eine starke Deindustrialisierung mit Rückbau der dortigen Kohle-, aber auch Glas-, Stahl- und Textilindustrie, Verlust von Arbeitsplätzen, massive demografische Abwanderung in urbanere Räume und den Westen sowie eine generelle Abwertung Oberlausitzer und ostdeutscher Biografien. Nun steht die Region erneut vor weitreichenden, wenn auch langsameren Veränderungen. Mit dem endgültigen Kohleausstieg 2038 droht ein doppelter Verlust (vgl. Retkowski, 2021): Zum einen der Verlust des ökonomischen Stabilitätsankers, den Braunkohlbergbau und -verstromung für die Region darstellen: Tarifgebundene Löhne, Bruttoeinkommen über dem ostdeutschen Durchschnitt und qualifizierte Ausbildungsgänge in der Kohleindustrie sicherten relativen Wohlstand und Sicherheit. Zum anderen der Verlust mit dem Bergbau verbundener identitätsstiftender Lebens- und Arbeitsweisen. Die Oberlausitz soll sich zur „europäischen Modellregion für den Strukturwandel“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2020) entwickeln, und diese Aufgabe - sowohl an die Wirtschaft als auch die Bevölkerung - wird durch Strukturstärkungsgesetze abgefedert. Mit ihnen sollen Verluste aufgefangen und neue Möglichkeiten ökonomischer, sozialer und ökologischer Entwicklung geschaffen werden. Geplant sind Ansiedelung von Behörden, Forschungsinstituten, Ausbau der Infrastruktur (in den Bereichen Gesundheit, Verkehr, Bildung), aber auch von privatwirtschaftlichen Unternehmen.

Bei der Bevölkerung stößt dieser Strukturwandel und die Wortwahl, „Modellregion“ eines vorbildlichen energiewirtschaftlichen Strukturwandels zu werden, vor dem Hintergrund von über 30 Jahren Umbruchserfahrung zum Teil auf Skepsis und geringe Offenheit für weiteren Wandel in der Region. Von staatlicher Seite ist deren Mitgestaltung der Transformation in Beteiligungsprozessen zumindest angestrebt, die Bedeutung einer lebendigen Zivilgesellschaft wird explizit betont. Vor dem Hintergrund entsprechender Anspannungen ist es interessant, sich vergangenes und aktuelles zivilgesellschaftliches Engagement und politische Protestbewegungen in der Oberlausitz anzuschauen. Auch wenn in der DDR (gemeinwohlorientiertes) Engagement eher im Rahmen staatlicher Massenorganisationen oder angegliederter Betriebe stattfand und eigenständige Formen oft Restriktionen anheimfielen (vgl. Staemmler et al. 2020), waren es dennoch oppositionelle Bürgerbewegungen und Massenproteste, die schlussendlich die DDR zu einem Ende führten. Als gegenwärtig relevant sind hier einerseits direkt auf den Strukturwandel bezogene Protestinitiativen zu nennen: Demonstrationen der Industriegewerkschaft Bau Chemie Energie, die fordern, den geplanten Ausstieg 2038 nicht vorzuverlegen, oder Bürgerinitiativen, die den Kohleausstieg gänzlich ablehnen, sowie Aktionen von Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die jeden Abbau weiterer Braunkohle verhindern wollen und einen früheren Ausstieg zur Einhaltung der Klimaziele fordern. Andererseits ist die Oberlausitz vor allem seit der Corona-Pandemie Schauplatz von Protestgeschehen gegen Grundrechtseinschränkungen, beispielsweise im Rahmen des sogenannten „Stillen Protests“ an der B96, die sich auch dezidiert gegen den Staat richten.

Zentral für das Projekt ist deshalb die Frage nach dem Erleben von (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Unsicherheiten und Transformationserfahrungen sowie kurzfristigen Krisenereignissen und deren Bedeutung für die politische Mobilisierung. Von besonderem Interesse ist dabei, wie kollektiv geteilte Erfahrungen von regionsspezifischen Konflikten, Umbrüchen oder Krisen und überregionale gesellschaftliche Widersprüche in der Oberlausitz verarbeitet werden, welche Bedürfnisse und Motive das dortige politische Engagement antreiben und welche Erwartungen an kollektive Handlungsfähigkeit damit verknüpft sind. Wie werden die verschiedenen Protestaktivitäten von den Oberlausitzerinnen und Oberlausitzern wahrgenommen und begleitet, welche Bedeutung wird ihnen zugeschrieben und welche Funktionen erfüllen sie für die Aktiven?

In diesem Rahmen sollen Gruppendiskussionen mit zivilgesellschaftlich engagierten, dem politischen Protest zugehörigen Personen, aber auch nicht-beteiligten Anwohnenden der sächsischen Oberlausitz durchgeführt, qualitativ-sinnrekonstruktiv ausgewertet und unter der Berücksichtigung regional-spezifischer Bedingungen verstanden werden.

Publikationen aus dem Projekt

Kalkstein, F. & Dilling, F. (under Review). Gesellschaft als Mythos – Apokalypse als Neubeginn.  Eine tiefenhermeneutische Einzelfalluntersuchung des Corona-Protests in der sächsichen Oberlausitz. ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung.

Hellweg, N., Riepenhausen, M. & Kalkstein, F. (2024). Kleinbürgerliche Renitenz: Zur politischen Kontinuität und sozialen Kontur der (post-)pandemischen Montagsproteste in Ostdeutschland. In: Demokratie in Sachsen. Jahrbuch des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für 2023., herausgegeben von Decker, O., Kalkstein, F., Kiess, J. und Kocyba, P., S. 182–215. Leipzig: Edition Überland.

Schliessler, C., Dilling, M. & Kalkstein, F. (2024). Eine alternative Wochenschau für die ‚Mitte‘ der Gesellschaft? In: Demokratie in Sachsen. Jahrbuch des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für 2023., herausgegeben von Decker, O., Kalkstein, F., Kiess, J. und Kocyba, P., S. 155– 181. Leipzig: Edition Überland.

Kalkstein, F., Dilling, M. & Schliessler, C. (2023). Heute wie damals?  Die sächsische Oberlausitz als Konflikt- und Mobilisierungsraum der Corona-Proteste. In: Demokratie in Sachsen. Jahrbuch des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für 2023., herausgegeben von Decker, O., Kalkstein, F., Kiess, J. und Kocyba, P., S. 179–200. Leipzig: Edition Überland.